7. Dezember 2020 – Artikel von Wieland Bonath in der Kreiszeitung, Lokalteil Rothenburg
Das Mittelalter wird wieder lebendig, wenn Ingeborg Helms erzählt. Die 83-jährige Architektin aus Stade, die sich ein Leben im Sessel nicht vorstellen kann, wurde vor 18 Jahren von einem Bazillus gepackt: Pilgern.
Auf langen und oft einsamen Wegen wie unzählige Gläubige in vergangenen Jahrhunderten quer durch Europa nach Santiago de Compostela im Nordwesten Spaniens. Dort, wo sich in der Kathedrale des weltberühmten Wallfahrtsortes angeblich das Grab des Apostels Jakobus befindet.
Pilgern, seit Jahrhunderten so gut wie eingeschlafen, ist für immer mehr Menschen, die den hastigen Alltag meiden möchten und die innere Einkehr suchen, wieder zu einem Wunschtraum geworden.
Auch für Ingeborg Helms, eine quicklebendige, drahtige und lebensoffene Frau, für die es einen Alltag auf dem Sofa nicht zu geben scheint. Wir treffen die 83-Jährige an einem strahlenden Herbsttag zwischen den Dörfern Benkel und Stapel an der Via Baltica, dem baltisch-westfälischen Pilgerweg an der Etappe von Zeven nach Otterstedt und weiter über Ottersberg, Fischerhude, Lilienthal bis zum Bremer Dom, wo sich Pilger den Stempel in ihren Ausweis setzen lassen.
Die Wiederbelebung der hochmittelalterlichen Hauptverkehrsachse Nordspanien von den Pyrenäen zum Jakobsgrab in Santiago de Compostela begann vor rund 50 Jahren und wurde von der Unesco als Welterbe aufgenommen, nachdem zuvor der Europarat die Wege der Jakobspilger zu Kulturrouten erhoben hatte. Inzwischen überzieht ein Netz von Jakobswegen, gekennzeichnet durch die gelbe Jakobsmuschel auf blauem Untergrund, viele Teile Europas.
Papst Johannes Paul II. besuchte 1982 Santiago de Compostela und rief den alten Kontinent auf, seine Wurzeln wieder zu beleben. Ein Wunsch, der sich schnell erfüllte: Waren es 1970 noch 68 Pilger, die sich auf den Weg nach Spanien machten, belief sich ihre Zahl 2019 auf 347 538 aus rund 170 Ländern. Etwa die Hälfte waren Spanier, andere kamen aus Deutschland, Italien, den USA, Frankreich oder Portugal – Frauen und Männer, alle Berufsgruppen, die Hälfte zwischen 20 und 50 Jahren alt, unterwegs als wandernde Pilger, mit dem Fahrrad oder auf Pferderücken – tabu sind knatternde Motoren – laufen allein, zu zweit oder in kleinen Gruppen in Richtung Spanien. In unterschiedlich langen Pilgerwegstrecken und kurzen Etappen, die viel Raum zur Besinnung lassen. Ziel ist immer die Kathedrale von Santiago de Compostela.
Helms: „Meine Pilgergeschichte hängt ursächlich mit der Geschichte des Freundeskreises der Pilgerwege in Norddeutschland und der Region Norddeutschland in der Deutschen St. Jakobus-Gesellschaft Aachen zusammen.”
Der Verein zählt rund 3 400 Mitglieder und ist in vier Regionen unterteilt. Ingeborg Helms war Vorsitzende der 400 Mitglieder zählenden Region Norddeutschland. Inzwischen hat sie den Vorsitz abgegeben, um als Stellvertreterin kürzerzutreten. Helms: „Ich bin jetzt als Wegekoordinatorin tätig. Das heißt, für die Strecke von Lübeck bis Göttingen, die Via Scandinavica, und Itzehoe bis Ottersberg, die Via Jutlandica/Via Baltica, insgesamt etwa 570 Kilometer.”
Das bedeutet für die 83-Jährige, dass sie einmal im Jahr die gesamte Strecke abläuft und feststellt, ob die Beschilderung in Ordnung ist oder ergänzt werden muss. Die Kooperation mit den Behörden im Zusammenhang mit der Pflege der Pilgerwege bezeichnet Helms als nach wie vor sehr häufig mangelhaft. Die Mehrzahl der Behördenmitarbeiter habe so gut wie keinen Zugang zum Gedanken des Pilgerns. Entsprechend die Reaktionen: Schilder mit der gelben Jakobsmuschel als Orientierung würden immer wieder achtlos entfernt oder beschädigt.
Ingeborg Helms, die allein, mit einer Bekannten oder in kleinen Gruppen auf dem Pilgerwegenetz in einer Reihe europäischer Länder teilweise monatelang unterwegs war, ungezählte Menschen und deren Schicksale kennengelernt und Gastfreundschaft genossen hat, weiß, dass sie mit 83 Jahren mehr mit ihren Kräften haushalten muss. Entsprechend gestaltet sie ihre Pilgertouren. Das Gewicht ihres Gepäcks wird auf ein absolutes Minimum reduziert. Ingeborg Helms: „Das sieht beispielsweise so aus, dass ich von der Zahnbürste den Stiel absäge, um ein paar Gramm zu sparen. Oder ich schicke von unterwegs die Dinge nach Hause, die ich nicht unbedingt benötige. Man ahnt ja nicht, mit wie wenig man auskommt.”
Die 83-Jährige, die sich scherzhaft als „Berufspilgerin” bezeichnet, will noch so lange wie möglich wallfahren. Dazu gehört auch das Pilgern zusammen mit ihren Enkelsöhnen, dem 24-jährigen Jeldrik, der Informatik studiert, und Yorick (22), Student der Biochemie.
Helms hat zum Treffen teilweise Ausrüstung und Gegenstände mitgebracht, die Pilger bereits im Mittelalter getragen beziehungsweise im Gepäck hatten: ein geschnitzter Wanderstab aus Haselnussstrauch, ein mächtiger schützender Hut aus schwarzer Schafswolle, ein grauer Pilgermantel mit aufgenähten Pilgerzeichen, einen stoffbesetzten runden Behälter für das lebenswichtige Wasser, eine kleine Umhängetasche für die Nahrung. Dazu das Pilgerbuch, in dem der Aufenthalt in den Pilgerherbergen oder Gastwirtschaften quittiert wird, die große Pilgermuschel, die am Hals getragen wird, Pilgerurkunden aus mehreren Ländern, darunter Spanien, Schweden und Polen. Außerdem Wanderschuhe für strapaziösen Asphalt, einen Rucksack mit den wichtigsten Utensilien, angefangen vom Verbandszeug über Toilettenartikel bis hin zur Jakobsweg-App, mit der Pilger den exakten Weg finden und Fotos aufnehmen können. Auch eine Wärmedecke und Regenzeug fehlen nicht. Zudem hat Helms eine Rarität mitgebracht: ein Pilgerbuch aus dem Jahr 1746.
„In diesem Jahr”, so Ingeborg Helms, „waren mehrere große Pilgerwanderungen geplant, aber coronabedingt musste alles abgesagt werden. Lediglich die Schilderkontrolle konnte ich, allerdings unter sehr erschwerten Bedingungen, durchführen.”
Und noch etwas sagt die 83-Jährige: „Ich möchte keinen Tag des Pilgerns missen. Meine Erinnerungen füllen mich aus. Trotzdem muss ich sagen, Pilgern ist anders, ist touristisch geworden. Dadurch ist die Gastfreundschaft geringer und das Pilgern teurer geworden. Die meisten Pilgerunterkünfte müssen heute bezahlt werden. Es gibt allerdings eine Initiative unter Pilgern, und die nennt sich ,Pilger beraten Pilger‘ und ,Pilger beherbergen Pilger‘.” Weiterführende Informationen, so Ingeborg Helms, gebe es im Internet auf der Homepage der Deutschen St. Jakobus-Gesellschaft.
► Deutsche St. Jakobus-Gesellschaft e.V. →
► Pilger beraten Pilger →
► Jakobswegfreun.de – Wege der Jakobspilger in Norddeutschland →
Quelle: Artikel von Wieland Bonath in der Kreiszeitung, Rothenburg, vom 7.12.2020